Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Erfahrung jemals machen würde. Aber des Öfteren geschieht es nun, und kommt von ähnlich wohlmeinenden, "radikalen" Christen, wie ich es einmal war. Ich sehe es in ihren Blicken. Ihrem Zögern und Nach-Worten-Suchen. Sie kämpfen einen mir allzu bekannten Kampf: Sie fragen sich, wie sie mich bekehren können. Ich weiß das, weil ich früher auch eine von ihnen war.
Ich habe neue Freunde immer zuerst danach beurteilt, wo sie geistlich stehen. Ob dies möglicherweise wirkliche Atheisten sind? Oder vielleicht nur nominelle Christen ohne geistliche Tiefe? Nennen sie sich vielleicht christlich, hatten aber nie jene Begegnung mit Jesus, die ihnen den Eintritt in den Elite-Club der Wiedergeborenen ermöglicht, und denken trotzdem, dass zwischen ihnen und Gott alles in Ordnung sei? Wahrlich, schmal ist der Weg...
Mit einer solch urteilenden Haltung hielt ich früher die meisten Menschen weit weg von mir – etwas, was mich nicht sonderlich gestört hätte, wenn es nicht dieses verflixte Thema der Evangelisation gegeben hätte. Denn sobald ich geurteilt hatte, dass ein Mensch nicht Teil des Reiches Gottes war, hatte ich ja eigentlich die Pflicht, diesen Moment zu nutzen, um ihn mit der Wahrheit vertraut zu machen. Warum warten? Vielleicht war dies die letzte Chance zur Errettung dieses Menschen…
Es gibt mehrere Gründe, warum dies das denkbar schlechteste Szenario ist, um mit einem Freund über den christlichen Glauben zu sprechen. Zunächst einmal ist mir nun meine Pflicht eine Last. Wenn es dem anderen nicht an geistlicher Reife mangeln würde, könnten wir uns alle entspannen und miteinander abhängen. Aber nein, er muss verloren sein, also muss ich mich bemühen, ihn zu retten. Wie ärgerlich!
Zweitens habe ich, da ich ja schon entschieden habe, dass er die Wahrheit nicht kennt, bereits jegliches Verlangen verloren, herauszufinden, was die Person denn überhaupt glaubt. Es ist ja falsch, warum also zuhören? Stattdessen suche ich verzweifelt nach einem Einstieg in ein Gespräch, in dem ich ihm erklären kann, was ich verstanden und erlebt habe. Die Tatsache, dass fast alle diese Gespräche in peinlichen Debakeln enden, wird dann den Leiden zugeschrieben, die wir um Christi willen erdulden müssen.
Natürlich denkt niemand von uns bewusst auf diese Weise. Aber wie bei vielen Dingen offenbart sich das, was wir tatsächlich denken daran, wie wir tatsächlich handeln.
Durch eine Reihe von einschneidenden Ereignissen, die zu hören ich den Lesern meines Buchs „Jenseits von Halleluja“ überlasse, fand ich langsam einen Weg, diese negative Lebenswelt zu verlassen. Ich bin bei Jesus geblieben, aber ich habe die Schuldgefühle, das Urteilen und das Alleswissen hinter mir gelassen (jedenfalls zu einem Teil – gewisse dumme Angewohnheiten sterben nur langsam). Ich fing an, mit Freunden zusammen zu sein, weil wir uns mochten, nicht weil wir dasselbe glaubten. Ich befreundete mich mit Menschen, bevor ich wusste, welchen Glauben sie praktizierten oder nicht praktizierten. Und ich fing an, auch Freunde zu haben, die eindeutig nicht glaubten, was ich glaubte. Das war eine der befreiendsten Erfahrungen meines Lebens. Ich habe keine spirituelle Agenda mehr, wenn ich mit jemandem zusammen bin. Vielleicht reden wir über Gott, vielleicht aber auch nicht. Beides stimmt nun für mich.
Ich treffe und befreunde mich auch immer noch mit evangelikal-fundamentalistischen Christen. Wenn sie mir von ihren Überzeugungen erzählen, höre ich mit Interesse zu, sage aber selber wenig - denn wenn ich als Teil einer solchen Gruppe eines gelernt habe, dann, dass Veränderung von innen kommen muss. Das heißt, die Fragen müssen von demjenigen kommen, der mir gegenübersteht. Und so lange es keine Fragen gibt, bringen auch die Antworten nicht viel.
Dadurch, dass ich nun nicht mehr diesen Mustern folge, hat sich für mich teilweise die Situation umgekehrt. Meine Vermeidung eines bestimmten christlichen Vokabulars oder Verhaltens lässt nun meine fundamentalistischen Freunde annehmen, dass ich zu den Ungläubigen übergetreten sei. Dies wird bestätigt, wenn sie mich mit Leuten zusammensitzen sehen, die mal ein zweites Glas trinken, fragwürdige Worte benutzen, oder auf andere Weise eine unverzeihliche Sünde begehen. Jetzt ist der Druck für mein Gegenüber groß. Da ich offensichtlich zu den verlorenen Seelen gehöre, muss am besten heute Abend der Abend sein - sonst gehe ich ja Gefahr, den Rest der Ewigkeit in Qualen zu verbringen.
Ich bin also zur Empfängerin dessen geworden, was ich früher austeilte. Ich muss leider zugeben, dass ich noch nie von einer Gruppe von Menschen so sehr verurteilt wurde, als von gewissen Christen, die vermuten, ich sei kein Christ - oder kein "richtiger" Christ. Das erinnert mich an Christians Geschichte.
Wir beide leiteten in den 90er Jahren die Bibelgruppe der Kantonsschule Wettingen. Unser junger Glaube wurde täglich durch die atheistische, säkulare Haltung unserer Lehrpersonen auf die Probe gestellt, und wir entwickelten daher eine starke Bindung zu unserer kleinen Schar von Glaubensgeschwistern. Unsere Gruppe hatte keine konfessionelle Zugehörigkeit, und in unserer (beneidenswerten) Unwissenheit stellten wir uns vor, dass das christliche Leben auch so bleiben würde.
Aber das Leben neigt dazu, einem in die Quere zu kommen. Unsere Wege trennten sich, und ich schloss mich einer evangelikalen Bewegung an, während Christian an einer liberalen staatlichen Hochschule Theologie studierte. Während der wenigen Male, die sich unsere Wege in den kommenden Jahren kreuzten, wuchs meine Überzeugung, dass er seinen Glauben verloren und ihn durch humanistischen Liberalismus ersetzt hatte. Dann verloren wir den Kontakt ganz und gar, bis ich eines Tages während eines Heimaturlaubs vom Missionsfeld in Indien die Idee hatte, mich wieder mit Christian in Verbindung zu setzen. Aber ich wollte mich nicht allein mit ihm treffen. Ich hatte eine besonders effektive Waffe, um meinen Heilsangriff abzufeuern - meinen Mann.
David war, sagen wir einfach mal, ein echter Heide gewesen, bevor er Jesus kennenlernte. Und ich war überzeugt, dass niemand einen Abtrünnigen besser erreichen könnte als ein wahrhaft reformierter Sünder. Wir trafen uns in einem Café, und nach etwas Smalltalk ging ich direkt an die Arbeit und bat David, seine Lukas-15-Geschichte vom Verlorengehen und Wiedergefunden werden zu erzählen. Christian hörte höflich zu und sagte uns, er freue sich für uns. Nach einem unangenehmen Moment (kannst du ihn dir vorstellen, Zuhörer?) sammelte ich all meine evangelistischen Kräfte und schoss den unvermeidlichen "Und-wo-stehst-du-mit-Jesus“-Pfeil ab.
Christian schaute uns mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an. Vielleicht war er verletzt, vielleicht war er erschöpft, vielleicht nur verwirrt. Ich werde jedenfalls nie vergessen, was er als Nächstes sagte, und seine Worte katapultierten mich auf meine Reise in die Freiheit. Seine Frage war: "Ich dachte, ihr seid auf Urlaub? Gönnen sie euch nie eine Pause und lassen euch einfach euch selbst sein?"
Es war nicht nur die Andeutung, dass ich der Kollegin, die er aus der Schule kannte, nicht mehr ähnelte. Es war auch die Ahnung, dass wir, von eigenen und uns von außen auferlegten Pflichtgefühlen getrieben, wie Marionetten lebten. Das war es, worüber wir damals in den Kantonsschultagen den Kopf geschüttelt hatten – Fanatiker, die sich selber fremd wurden, um einem religiösen System gerecht zu werden, in welchem sie gefangen waren. Das vielleicht subtile, aber sehr reale Empfinden einer Pflicht, Menschen in Gläubige und Ungläubige einzuteilen und sie entsprechend unterschiedlich zu behandeln, hatte mich verändert. Es hatte mich in jemanden verwandelt, der für Christian, diesen Mitstreiter aus den Tagen meiner ersten Liebe zu Jesus, nicht wiederzuerkennen war.
Es war Zeit, meinen Weg zurückzufinden.
I love your vulnerability shown by sharing this, Judith. I completely agree that the decision to follow Christ must come from within and it also takes humble servants like you to be a wonderful example of His Grace. I’ve learned to be thankful for my brokenness and adversity in the times where I was lost so that I could truly come to know what God’s love, patience, and forgiveness looks like. The times I’ve fallen have all turned out to be blessings in disguise that result in a greater perspective. We all experience different paths and hopefully, they all lead to our salvation. My hope is that I can serve God and others in a way that glorifies His holy name and furthers His Kingdom every day and let him be the judge of all things. Godspeed on your continued blogging journey – keep writing and inspiring!
Thanks for sharing, Jeff! “Let Him be the judge of all things” – this is such a powerful concept. A Christian who realizes that judging is never his job (not the kind of negative judging that is done by most people, anyway) becomes free himself and frees those around him to open up and make themselves vulnerable. That’s when we actually start to represent Christ…
I’m currently studying Christian Worldview as part of my Bachelor’s degree. I really enjoyed reading your post. Having different views does not mean we have to ultimately share those views or force them onto each other. We still can be connected, learn from each other, and love and respect each other.
Christin, I totally agree. Respect towards the other is the prerequisite of expanding our own world!
This is a great read!!! And food for thought. I can def. relate and need to think on this topic some more. Thank you for writing and sharing this. Well written too!
Thank you for your comment, Rosalie. I’m looking forward to your thoughts about it!♥️
Beautiful and poignant! Your words resonate so powerfully for me as I have walked a similar path. Deconstructing from a hell doctrine, and unlearning all the religious hogwash I have been brainwashed with since I was a child has not been an easy road, but so worth it! Thank you for sharing xxx
Hi Guy! Thanks for sharing. Yes, the deconstruction is so important – and so is the reconstruction, where we again learn to find that what we loved or were drawn to in the first place… whas there something like that for you that you would like to find back to?
I loved your blog. I think there are a lot of recovering fundamentalists out there and even more that are infected with the same same malady but because their religious box keeps them reigned in so tight, they are afraid to allow themselves the freedom to think outside of that box. I believe your writings will give people like them the courage to step over their own boundaries. Good for you. I believe God is going to use your writing in a powerful way. I can already think of several people that can benefit from your blog and I am going to pass it on to them!
Hey Suzan, thanks for sharing your thoughts and for your encouraging words. God outside the box…. this is something I’ve been thinking about for years. And of course the challenge is to not take Him out of one just to put Him into the next one (even if that’s bigger)… which would be so easy to do!
Hi Judith,
Thanks for clarifying the thought for me. I have often wondered why i felt it better to keep silent when my school friend goes on about her view of who and what i am and should be doing.. it was hurtful and annoying but over time i hear subtle changes. Its like you said, the question has to come from within them. Sometimes i felt i had to defend my beliefs but the result was not a good. I shall be more patient. Also look again at my own ‘lens’. God bless you.
Hi Lesley! What kind of results did you see when you tried to defend your beliefs? I would love to hear more about this!
Hey Judith:
Reading your story and your reaction to Chris’ question at the end reminded me of how hard it can be to find our identity in Christ. One of my favorite Bible verses is Gal. 2:20. It became one of my favorites after reading Dan Stone’s The Rest of the Gospel. In fact, I had to read Stone’s book twice before it started to sink in. When we learn to get out of the way so that Christ can live His life through us, we begin to understand that our identity now comes from Him. Labels like fundamentalist, charismatic, evangelical, pentecostal, etc. aren’t from Christ. They’re man-made distinctions that tend to obscure the fact that a Christian is simply a follower of Christ. A follower’s identity comes from what or whom they are following. As we learn how to be rather than do Christ-likeness, the stress and anxiety of doing is replaced with the freedom and joy of being in-Christ.
Greg, thanks for your thoughts! I agree with you that labels are always an insufficient way to try and describe a person’s relationship with God. Or, as Kierkegaard said, “if you label me, you negate me”. Our identity is never in a church denomination or a specific way of following Christ, but instead in the work He performs in us to make us more like Him.
I have learned it’s so important to love people beyond their beliefs, differing opinions, past, present, etc. Jesus never had a prerequisite, but He always guided people to the Father and His love. I grew up in religion, my time in India certainly changed that. Even when I thought I wasn’t religious, I learned just how much of a Pharisee I was. Jesus certainly helped me and still is, and a loving husband has helped lead me out of that mentality. Thank you for writing and sharing this. Looking forward to more!
Thank you, Jessica. Jesus has no prerequisites. I love that! But it’s not that easy for us to imitate that…
No, it is not. 😊 I really related to what you said about appeasing a system. If I was told to jump, I was expected to ask how high lol.
Hi Judith awesome to hear your teaching after long time. In way this helps me to recognise i have become too much fundamentalist. Thanks greetings to David and kids.
Hi Vijay! So good to hear from you! I think we all have some of these fundamentalist tendencies in us (see my reply to Karolina), but it looks different for everybody. Recognizing it is the first step into more freedom. If we desire freedom for ourselves and others, God will help us to get there.
Hi Judith. Thanks for this blog. The immediate reaction after reading this is, it takes me back to 2014 where you guys helped me to journey through ‘Wisdom Hunter ‘ series. Can relate to your journey. It brings such a freedom reading these words. You both are awesome!
Hey Ashish! So good to hear from you. Ahh… Wisdom Hunter. Still one of my favorite books ever. Randall Arthur played a big part in helping David and I move in a direction of freedom.
Dear Judith. So brave of you to share your thoughts like this. I am intrigued to hear more.
I don’t know what you mean by a fundamentalist.
Were the first disciples fundamentalists? Or the Pharisees? Or who do you classify as that?
Maybe I’m one…
I just love Jesus, spend time with Him. He keeps on changing me to love people more and being humble. After spending time with him, I am full of peace, and love and other people notice it. Sometimes he leads me to say something often not. I hang out with all kinds of people and many of then believe something else. But there is nothing better than to gather with my one heart one soul brothers and sisters and worship Jesus.
I love to hear more
❤️🤗
Karolina
Hi Karolina! That is a great question. By a fundamentalist mindset I’m talking about my own worldview at that time – a worldview that wouldn’t allow any others next to it. I was scared of people who believed differently, and therefore judged them as wrong so I would feel better.
To me, fundamentalists aren’t necessarily a group of people (or a denomination), but it’s a condition where you divide the world into Us and Them – and They have to be wrong in order for Us to be right. The antidote to fundamentalism, therefore, is to remember that God loves everybody, whether they believe in Him the way I do or not.
I understand what you’re saying that there’s “nothing better than to gather with one heart one soul brothers and sisters”. It’s what family does – it gives you a sense of home and belonging, and I enjoy it immensely as well. Jesus surrounded himself with his family, his disciples. The art is to then, like him, go out and mingle with other circles and invite people in, accepting the tension this might bring, and celebrate life with those who are like us and with those who are not. It sounds to me as if you are doing exactly that, which is wonderful! ♥️
Well said and thoughtful Judith! My favorite line is ‘the questions have to come from the one across from me’. You have been on this journey your whole life and the end is not in sight yet!
Thanks Jeannine! Yes, we had talked about this way back in our group.. but like you said, you never “arrive” at truly encountering people without preconceived notions! I always remember you as a person with a wonderfully free spirit who made people at ease no matter what they were going through.
Love it Judith and I can relate!
I think to truly meet friends and foes without an agenda, can only happen if I free myself from the eternal in & out scenario. Otherwise the only loving thing-no matter how awkward and painful it is, -is to try to evangelize every free minute!
Once I come to trust God’s journey with each and everyone out there, I can relax and know that he will bring to a good end the life he has started.
Hi Debbie! Thanks for your thoughts. Yes, I believe like you that the pressure – however internal – to evangelize only keeps us from truly meeting the person we’re talking to. On the other hand, just being interested in who they are, actually opens up ways for God to show Himself to them.