Wir tragen viele Hüte im Leben. Mutter. Ehefrau. Missionarin. Lehrerin. Schriftstellerin. Das sind einige meiner ehemaligen und momentanen Hüte, und Ihre Liste ist vielleicht noch länger. Diese „Hüte“ definieren uns bis zu einem gewissen Grad, beanspruchen unsere Zeit und bringen uns dazu, unsere Ressourcenverteilung ständig zu hinterfragen. Kein Wunder, dass sich viele von uns jahre- oder jahrzehntelang mit der Frage beschäftigen: "Was soll ich in diesem Leben erreichen, und was sterben lassen?"
Offensichtlich haben wir mehr als eine Berufung im Leben. Ich will mit aller Leidenschaft und Liebe Jesus nachfolgen und die beste Mutter und Ehefrau sein, die ich sein kann. Dies sind meine "offensichtlichen" Berufungen, und Sie haben Ihre eigenen. Doch was ist mit unseren Jobs, unseren Hobbys, unserer Kirche, unserer ehrenamtlichen Arbeit, unseren Interessen? Welchen sollen wir wie viel Aufmerksamkeit schenken?
Kürzlich las ich diese wunderschöne Aussage des Schriftstellers und Theologen Frederick Buechner:
"Deine Berufung im Leben ist dort, wo deine größte Freude auf die größte Not der Welt trifft".
– Frederick Buechner
Der tiefste Wunsch eines jeden Menschen ist, den Ort, die Arbeit oder die Berufung zu finden, wo das, was wir gerne tun, ein tiefes Bedürfnis der Menschheit stillt und uns mit Zufriedenheit und Dankbarkeit erfüllt.
Ich habe Jahrzehnte damit verbracht, über diese Frage nachzudenken - im Grunde seit ich ein Teenager war. Ich wusste intuitiv, dass die Suche nach dem, was ich sein wollte, etwas Tieferes erfordert als das übliche Streben unserer Gesellschaft nach Komfort, Sicherheit oder Erfolg.
Schon immer bewunderte ich Menschen, die genau wissen, was sie wollen. Menschen, die sich enorm anstrengen, um etwas zu erreichen, was andere kaum erstrebenswert finden. Für diese Menschen lohnt sich aller Aufwand, weil ihr Ziel ein Teil ihrer Berufung ist - ein Teil gar ihrer selbst.
Schließlich, vor etwa sechs Jahren, fand ich endlich und schrittweise in meine eigene Berufung. Dies begann fast zufällig in Form einer Frage meines Mannes, was ich tun würde, wenn mir beruflich alle Türen offenstehen würden. Nach einem kurzen Abstecher in eine Traumwelt, in der ich Beethovens Neunte Symphonie mit dem Londoner Symphonieorchester vorführe (was höchstwahrscheinlich nicht passieren wird) oder am Artemis-Mondprogramm teilnehme (was definitiv nicht passieren wird), sagte ich, ich würde einen Roman schreiben.
Mein wundervoller amerikanischer Ehemann mit seiner Haltung von "Du kannst tun, was immer in deinem Herzen ist", meinte: Was hält dich denn davon ab? Darauf brachte die stets pragmatische Schweizerin mindestens sechzehn Gegenargumente, angefangen von "Ich habe das nicht studiert“ (ein Lieblingsargument eines Schweizers) über "Ich weiß nicht, wie man Dinge vermarktet" bis hin zu "Nur erfolgreiche und berühmte Leute tun doch so etwas".
Worüber ich mir keine Gedanken machte, war die eigentliche Arbeit des Schreibens. Das Schreiben liebte ich bereits. Um mich als Schriftstellerin zu sehen, brauchte ich jedoch die Hilfe meines visionären Ehemanns.
Die folgenden sechs Jahre erwiesen sich als das, was das Leben doch so oft ist: eine Achterbahnfahrt. Alles geschah zum ersten Mal. Auf kleine Erfolge folgten große Misserfolge, manchmal auch andersherum. Viel Unbekanntes, und noch mehr Überraschungen. Mehr als einmal bemerkte ich gegenüber meinem Mann, dass dies das Schwierigste sei, was ich je getan hätte. Und immerhin habe ich drei Kinder ohne Schmerzmittel zur Welt gebracht.
Doch inmitten der Herausforderungen bin ich heute genau dort, wo ich schon mein ganzes Leben lang sein wollte. Meine größte Freude trifft auf ein echtes Bedürfnis der Welt (das Bedürfnis der Menschen, mit Gott und anderen Menschen auf authentische Weise in Gemeinschaft zu leben, ohne ihre eigene Zerbrochenheit zu überspielen - und die Geschichte anderer zu hören, die ähnliches erlebt haben). Dadurch darf ich ein kleines Stück von Gottes wunderschönem Werk der Liebe, das wir das Reich Gottes nennen, sein.
Wie sieht denn ein solcher Alltag aus? An vielen Tagen mache ich nichts, was auch nur entfernt mit dem Schreiben zu tun hat, weil ich stattdessen meine Kinder herumfahre, einkaufe, Steuern zahle, versuche gesund zu bleiben, und mich frage, warum alles im Leben nur so viel Zeit in Anspruch nimmt.
Aber dann gibt es Tage, an denen ich mich wirklich in meine Berufung vertiefen kann. Es sind Tage wie dieser…
6:10 am Uhr: Ich helfe meinen Kinder, sich für die Schule bereitzumachen.
7 Uhr: Mein Versuch eines Home-Workouts ist gut gemeint, normalerweise jedoch schnell wieder vorbei.
7:15 Uhr: Ich verbringe Zeit in Stille mit Gott, der Bibel und meinen eigenen Gedanken über das Wunder des Lebens und darüber, dass ich ein Teil davon bin. Überdauert jeden Workout.
8 Uhr: Ich öffne meinen Computer und arbeite mich durch die Aspekte eines Lebens, das sich mehr in Technologie und digitale Kommunikation verstrickt hat, als ich mir das wünschte - aber ich traue mich natürlich nicht, das zu beklagen, aus Angst, von meinen bald-Teenagern als kompletter Dinosaurier abgestempelt zu werden.
9 Uhr: Ich kommuniziere mit dem Team, das derzeit an der deutschen Übersetzung meines ersten Romans A Broken Hallelujah arbeitet, und staune über die Herausforderungen, die sich aus dem Versuch ergeben, in zwei von sehr unterschiedlichen Kulturen verwendeten Sprachen genau dasselbe auszusagen.
9:15 Uhr: Ich schreibe einen Brief (mit echtem Papier!) an eine Autorenkollegin, die über ein ähnliches Thema wie ich schreibt. Im Brief feuere ich sie an und teile ihr mit, was ihre Bücher in meinem Leben bedeutet haben. Mir für so etwas Zeit zu nehmen habe ich erst gelernt, nachdem ich mein eigenes Buch geschrieben und erkannt hatte, wie wichtig persönliches Feedback für einen Autor ist. (Bevor ich selber mit dem Schreiben begann, nahm ich einfach an, dass Schriftstellende genug mit dem Schreiben beschäftigt sind und keine Zeit damit verbringen wollen, Briefe von Lesern zu lesen. Ein großer Irrtum.)
9:45 Uhr: Ich lese die neuesten Beiträge im Blog der Allianz Unabhängiger Schriftsteller - eine Quelle ständigen Staunens für mich. Beim Aufwand, den Schriftsteller betreiben, um ihre Bücher zu vermarkten, wird es mir noch immer schwindlig. Die meisten von uns sind Künstler, die verzweifelt versuchen zu SCHREIBEN, und sich stattdessen mit einer Million anderer Dinge beschäftigen müssen. Es geht dies von der Einholung von Urheberrechten über die Bearbeitung von Amazon-Verkaufsberichten und Werbeplattformen bis hin zum Ausprobieren der neuesten Schreibsoftware. Im ersten Jahr, in dem ich Teil dieses Netzwerks war, brauchte ich emotionale Unterstützung nach jeder Viertelstunde Einblick in das "wahre Leben" eines Schriftstellers.
Um 10 Uhr erhalte ich eine E-Mail von Boyd, dem Produzenten und Schauspieler, der die Produktion meines Hörbuchs für A Broken Hallelujah leitet. Er schickt mir die Stimme von Justin, einem der Hauptprotagonisten des Romans, gesprochen von einem Schauspieler, den ich noch nie persönlich getroffen habe. Ihm zuzuhören, wie er die Zeilen einer meiner Figuren liest, die mir so sehr am Herzen liegt, ist zugleich berührend und stressig. Das nächste erste Mal.
10:30 Uhr Eine junge Frau meldet sich bei mir, die gerade mein Buch zu Ende gelesen hat. Sie war Teil des gleichen Umfelds, das ich - und die Hauptprotagonisten meines Buches - erlebten. Der Schmerz, den sie durch dieses Umfeld erfahren hat, geht viel tiefer als meiner. Ihre Stimme erinnert mich daran, wie wichtig es ist, meine Geschichten zu erzählen. Sie sollen Menschen helfen, ihren Glauben als einen Ort der Freude und nicht der Schuld und Angst zu erleben. Sie sollen Erinnerung sein, dass Gott immer unsere Grenzen sprengt und dass ein Leben in Freude und Unbeschwertheit aus einem tief verwurzelten Glauben möglich wird und in die Weite wachsen darf.
Um 11 Uhr bespreche ich mit Jacqueline, meiner britischen Lektorin, die Überarbeitung der ersten achtzehn Kapitel meines (noch namenlosen) zweiten Romans. Wir diskutieren Spannungsbogen, Handlungsstränge und hundert andere Dinge, von denen ich bis vor ein paar Jahren noch keine Ahnung hatte, dass sie existieren. Lektorin muss ein fast so wunderbarer Job sein wie Schriftstellerin.
11:30 Uhr Mein knurrender Magen sagt mir, dass der Mensch nicht nur vom Schreiben lebt, und dass, obwohl ich es vielleicht geschafft hätte, das Frühstück auszulassen, das Mittagessen nicht zur Debatte steht.
12:15 Uhr Ich trinke meinen Espresso nach dem Mittagessen, öffne meine Schreib-App und – oh Wunder! - beginne tatsächlich zu SCHREIBEN!
14 Uhr Welch Wonne! Fast zwei Stunden schreiben ohne Ablenkung, und Kapitel 19 nimmt Form an. So sehr ich meine Kinder liebe und den Nachmittag, den ich mit ihnen verbringen werde, stelle ich mir insgeheim vor, wie viel ich allein auf einer Insel fertigstellen könnte. Wenn mich zwischen 14 und 22 Uhr gar niemand unterbrechen würde? Unvorstellbar.
Aber dann tauche ich in den Teil des Lebens, der meine Berufung nährt und aufrechterhält - meine Familie, meine Freunde, meine Hobbies. Ich möchte keine Insel sein und kann mir für keinen Kunstschaffenden eine solche vorstellen. Die menschlichen "Ablenkungen" sind ein Teil dessen, was das Leben schön macht und was aus meinen Seiten etwas Authentisches und von Liebe Durchzogenes erklingen lässt. Und mit etwas Glück kann ich mich morgen wieder hinsetzen und weiterschreiben. Und dasselbe am Tag darauf. Und am darauffolgenden ebenso.
Fast so, als wäre es eine Berufung.
judichri says
Liebe Judith
Dein Schreiben hat uns beiden sehr gut gefallen. Schön, dass dich das Schreiben so ausfüllt. Und gut, dass du das machen kannst, was dir wirklich gefällt. Und ein Privileg, dass David dich unterstützt und ermutigt!
Mit lieben Grüssen Mami und Lino