Wie hält man das Interesse eines Lesers über den ersten Satz eines Blogbeitrags hinaus aufrecht? Man verspricht Geld. Man spielt auf einen Skandal an. Oder man schreibt über Rachel Held Evans.
Entweder kennst du sie bereits und bist daher nun freudig gespannt auf diese Zeilen, oder du kennst sie noch nicht und fragst dich jetzt, was du wohl bisher verpasst hast. Clever, nicht wahr?
Mein heutiger Blogbeitrag ist kurz (laut Internet beträgt die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Blogpost-Lesers 52 Sekunden, d. h. wenn du sehr langsam liest, habe ich dich vielleicht schon verloren), also werde ich mich mit meinen Lobeshymnen auf Evans auch kurz halten. Vielleicht reicht es, wenn ich sage, dass ihre Bücher mich auf Trab halten - das heißt, ich laufe während des Lesens dauernd im Haus herum auf der Suche nach jemandem, dem ich einen weiteren ihrer genialen Gedanken vorlesen kann. Und ihr Schreibstil! Poetisch. Witzig. Verletzlich. Provokant. Wunderbar.
Aber es ist nicht nur das Wie. Es ist auch das Was ihres Schreibens, das mir unter die Haut geht. Als jemand, der fast ein Jahrzehnt damit verbracht hat, sich vom Evangelikalismus und Fundamentalismus loszulösen, sprechen mich unzählige Aspekte ihrer Bücher an. Als jemand, der seither seit Jahren versucht, mein Leben auf der Grundlage eines weniger definierten, dafür aber ehrlicheren und liebevolleren Glaubens neu zu gestalten, sprechen sie mich noch mehr an.
Nach der Lektüre ihres Buchs Es Ist Kompliziert - wie ich glaube, ohne zu verzweifeln wurde mir klar, dass mich vor allem ihr Schreiben aus einer Position der Schwäche fasziniert. Sie ist gnadenlos ehrlich, wenn es um ihr Scheitern und ihre Zweifel geht. Sie schlägt etwas vor, das verdächtig nach Jesus riecht: dass wir unsere Vorstellungen davon, wie wir als Christen leben und leiten sollen, auf den Kopf stellen. Dass wir der Welt von Jesus erzählen, indem wir nicht von unseren Erfolgen und Zielen, sondern von unserem Versagen und unserem Nicht-wissen berichten.
Wenn es dir so geht wie mir, dann bist du schon zahllosen Büchern begegnet mit Titeln wie: "Zehn Schritte zum Erfolg", "Fünf Regeln, um Dein Leben zu ändern" oder "Sieben Wege, ein besserer Mensch zu werden". All diese Bücher - von denen ich wahrscheinlich nur ein einziges zu Ende gelesen habe (und das auch nur, weil ich es noch mehr hasse, ein Buch nicht zu Ende zu lesen, als mich dieses Buch genervt hat) - haben mich frustriert zurückgelassen. Mit Bibelleseplänen verhält es sich übrigens genauso. Anstatt durch den Text verändert zu werden, hinterlässt ein Leseplan bei mir nur die Frage, warum ich beim besten Willen nichts länger als eine Woche durchhalten kann, außer mir die Zähne zu putzen.
Dem disziplinierten Leser, der jetzt den Kopf über mich schüttelt – Hut ab, dass du es schaffst, dich an zehn Schritte, fünf Regeln und sieben Wege zu halten… und das, lass mich raten, vielleicht ganze 2.3 Monate lang? Und doch kommt auch für den Diszipliniertesten unter uns der Moment, wo‘s zum Glänzen einfach nicht mehr reicht. Wo wir froh sind, dass niemand wirklich fragt und niemand weiß, was tatsächlich abgeht.
Doch seit jeher denken Christen, um ein Licht für die Welt zu sein, müssten wir uns von unserer besten Seite zeigen. Alles im Griff haben. Den unbequemen Fragen aus dem Weg gehen. Die Sonntagsbilder posten und an den Dingen festhalten, an die wir mal geglaubt haben.
Rachel Held Evans war zu nichts von alledem in der Lage. Ihr ehrliches, impulsives, chaotisches, wundervolles Ich konnte sich nicht zusammenreißen, hatte viel zu viele unbequeme Fragen und wusste schon lange nicht mehr, wie sie noch glauben sollte, was ihr mal beigebracht worden war. Stattdessen erkannte sie, dass die Kirche und das christliche Leben vielleicht gar nicht von diesen Dingen geprägt sein sollten.
In einem brillanten Kapitel namens Epic Fail (Ein Großartiges Scheitern) beschreibt Evans eine 2011 entstandene Bewegung, gegründet von einem ausgebrannten Pastor. Dieser hatte die Nase voll von hochglänzenden Pastorenkonferenzen, die Erfolgsgeschichten von Megakirchenpastoren verkauften. Er wusste, dass 99 % der Teilnehmenden sich dadurch innerlich als Versager fühlen, während sie äußerlich ein Lächeln aufsetzten. Er beschloss daher, die erste Epic Fail Pastors Conference ins Leben zu rufen - ein Treffen, bei dem jeder Pastor seinen schlechtesten Fuß nach vorne stellte.
Das Ergebnis, so die Teilnehmer der Konferenz, war "eine Zeit, in der Lebensgeschichten und Lebenskämpfe mit erfrischendem Mut geteilt wurden – und dies von Menschen, die sich über ihre Auseinandersetzung mit Depressionen, ihre Angst vor dem Versagen und ihre gebrochenen Herzen äußerten. Es gab keine beeindruckenden Vorträge - stattdessen wurde gelacht, gebetet und geweint.... Es war ‘wie ein Kuss Gottes auf unsere Wunden‘, wie es ein Teilnehmer ausdrückte.“
Evans sagt weiter: "Ich frage mich, ob die Rolle des Klerus in diesem Zeitalter nicht mehr darin besteht, Informationen zu verbreiten oder das Prestige unserer Autorität zu bewahren, sondern vielmehr darin, den ersten Schritt zu tun - freiwillig die Wahrheit über unsere Sünden, unsere Träume, unser Versagen und unsere Ängste zu verraten, um andere dazu zu befähigen, das Gleiche zu tun."
Was für ein erfrischender Gedanke - dass Pastoren, Führungskräfte oder Autoren ihren Gemeinden dadurch dienen, indem sie mutig die Fragen stellen, die sich niemand zu stellen traut, Kämpfe ansprechen, die man ihnen nie angesehen hätte, und Fehler zugeben, die andere Leiter niemals öffentlich zugeben würden.
Ich will den positiven Aspekt reifer Vorbilder nicht schmälern, deren unerschütterlicher Glaube uns durch Krisen hindurchhelfen kann und deren Weisheit unsere inneren Kraftreserven füllt. Aber die meisten dieser Vorbilder waren zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens auch ein heilloses Durcheinander. Und zu viele von ihnen wurden von wohlmeinenden, aber verurteilenden Brüdern und Schwestern niedergeschossen, bevor sie jemals die Reife erreichen konnten, die die Menschen um sie herum so dringend gebraucht hätten.
Was Evans vorschlägt - durch großartiges Scheitern zu führen - ist eigentlich keine neue Idee. Ich vermute sogar, dass sie diese Idee direkt von Jesus übernommen hat. Seien wir mal ehrlich - die Menschen, die er auswählte, um seine Bewegung in Gang zu bringen, waren durchs Band weg eine Katastrophe. Sie zweifelten an ihm, verrieten ihn, liefen vor ihm davon und verstanden seine Botschaft mit entnervender Regelmäßigkeit falsch. Heute würde keine einzige Organisation in ihrer Werbung so viele peinliche und verwirrende Geschichten über ihre eigenen Botschafter aufführen (gewürzt mit etwas Misserfolg und Verrat), wie das die Autoren des Neuen Testaments taten. Die gesamte Marketing-Abteilung würde kündigen, bevor irgendwelche Flyer je gedruckt werden könnten.
Und doch sind es genau diese Geschichten, die Jesus als Beispiele für sein Reich gewählt hat. Es scheint, dass seine Jünger als Beispiele eines Lebens ausgewählt wurden, das ohne die Gnade Gottes absolut scheitert - eines Lebens, das in sich selbst ziemlich erbärmlich ist, das aber durch das Wunder der Gnade Gottes die Kraft hat, den Lauf der Weltgeschichte zu verändern.
Auszüge aus: „Es Ist Kompliziert“ von Rachel Held Evans, Brendow Verlag, 2016
Dharmesh says
This is simply amazing Judith….no one talks about failing….Infact failure ( and acknowledging it) can be a big stepping stone to Succes….I will check out Rachel Evans…and J.R. Briggs (Epic Fail Pastors Conference)
Your Student Dharmesh 🙂
Bombay-India
Judith Forgoston says
Hey Dharmesh! So good to hear from you! I’m glad you enjoyed my thoughts. Rachel is definitely worth checking out, she is honest and funny and “the real deal”. Hope all is well with you! We remember our years in India as an unforgettable and precious time!
Kim Mears says
Loved this! ❤️
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Judith Forgoston says
Thank you, Kim!