Dank einer ast-ähnlichen Türdekoration haben wir derzeit einen Hausgast vor der Tür - einen entzückenden Zaunkönig mit fünf Eiern, von denen das erste erst gestern geschlüpft ist. Trotz meiner Ermahnungen an die Familie, beim Öffnen der Tür vorsichtig zu sein, wurde der Vogel heute Morgen überrumpelt, und anstatt während dem Öffnen der Tür zum nächsten Baum zu fliegen, flog er stattdessen ins Haus hinein.
Die nächsten 20 Minuten waren filmreif. Ich drohte unserer Katze, sie zu enterben, wenn sie auch nur den leisesten Versuch einer Attacke gegenüber dieser Mutter eines Neugeborenen unternähme. Ich öffnete alle Fenster (was meine Zimmerpflanzen in einen Schockzustand versetzte, da es draußen genau 0 Grad war) und versuchte, den Vogel wieder nach draußen zu locken. Aus irgendeinem Grund schien es ihm unmöglich, durch eine der riesigen Öffnungen zu fliegen, und er schlug stattdessen immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand und die Fensterteile, die nicht geöffnet werden konnten.
Ich versuchte, mit ihr zu reden. Ganz im Ernst. Der heilige Franziskus hat dies getan, und so fühlte ich mich in guter Gesellschaft. Vielleicht lag es an meinem Mangel an Latein, aber der Vogel verstand mich nicht. Stattdessen beäugte mich nur und flog um meinen Kopf herum, als wolle er sich lieber in meinem Haar einnisten, als einfach aus einem der verflixten offenen Fenster zu fliegen, die mein Haus langsam aber sicher in einen Kühlschrank verwandelten.
Schließlich erbarmte sich Gott meiner und erklärte dem Vogel wohl in seiner eigenen Sprache, wo der Weg in die Freiheit lag. Ich schloss alle Fenster und machte mir eine Tasse Kamillentee anstelle meines üblichen Kaffees. Ich warf immer wieder einen Blick aus unserer Haustür, von der aus ich das Nest sehen konnte, und beruhigte mich erst, als ich nach etwa zehn Minuten meine Freundin wieder auf ihrem Nest sah. Ich war besorgt gewesen, dass sie ihre Kinder aufgrund der von meiner Familie verursachten PTBS im Stich lassen könnte.
Während meiner Auseinandersetzung mit dem Zaunkönig kam mir ein Gedanke in den Sinn: Wenn du nur wüsstest, mir zu vertrauen.
Mein kleiner Zaunkönig war in diesen zwanzig Minuten nicht nur stark gestresst, sondern auch in Gefahr gewesen (na ja, nur theoretisch - in Wirklichkeit könnte unsere Katze keinen Vogel fangen, und wenn ihr Leben davon abhinge). Und wenn sie nicht endlich einen Ausweg gefunden hätte (ich weiß nicht, wie lange ich noch bereit gewesen wäre, mein Haus tiefzukühlen), wären ihre Kleinen im Nest gestorben.
All das geschah, weil wir uns nicht verständigen konnten. Und weil sie nicht wissen konnte, dass ich ihr zu helfen versuchte.
Klingt das wie eine perfekte Analogie zu unserer Beziehung zu Gott? Aber diesmal war ich auf Gottes Seite der Analogie. Ich versuchte verzweifelt, dem Vogel zu seinem eigenen Besten zu verhelfen. Dabei hatte ich keine Hintergedanken (außer, dass ich die Fenster irgendwann wieder schließen wollte). Dennoch war ich heute wahrscheinlich sein größter Feind gewesen, und seine Jungen werden vielleicht erwachsen sein, bevor er mir wieder ohne Angst in die Augen sehen kann. Und das alles nur, weil er wirklich nur SEHR wenig über seine eigene Situation weiß, oder darüber, wo die wirkliche Gefahr liegt , oder was die Lösung für all seine vermeintlichen Probleme sein könnte.
Aber lassen wir für einen Moment die begrenzte Perspektive von Zaunkönigen und anderen Geschöpfen Gottes beiseite. Ich war erstaunt über meine eigene Dringlichkeit, diesen Vogel zu retten. Einer von Millionen von Vögeln in Georgien. Einer, dessen Babys in der nächsten Nacht erfrieren könnten. Ein Vogel, den ich nicht verstehen, mit dem ich nichts teilen und den ich nicht einmal von seinen Tausenden von Zaunkönig- Freunden unterscheiden kann. Und doch sind dieser Vogel und seine Babys aus irgendeinem Grund wichtig genug für mich, um auf meinen Kaffee zu verzichten, meine Katze anzuschreien und mein Haus zu unterkühlen.
Ich glaube nicht, dass ich Matthäus 10,29 jemals wieder auf dieselbe Weise lesen werde: Werden nicht zwei kleine Spatzen für einen Pfennig verkauft? Und doch wird nicht einer von ihnen zu Boden fallen, ohne dass Euer Vater es gewollt und bemerkt hat.
Während meine Freundin, die Zaunkönigin, gerade ihr Erstgeborenes vor meiner Tür füttert, fühle ich mich seltsam getröstet durch das Wissen, dass Gott genau dieser Vogel ebenfalls nicht egal ist. Und ich kann mir nur die Liebe und Fürsorge und die unablässigen, sanften Stöße in Richtung des offenen Fensters vorstellen, die Gott mir und dir immer wieder gibt auf unserer Reise, ihm zu vertrauen.
Ruedi Stähli says
Danke für die “German Version” dieser starken Analogie!
judichri says
Liebe Judith
Was für eine wunderschöne Geschichte! Die wäre es wert, dass man sie für einen Input für einen Gottesdienst verwendet.
Ich wünsche dir einen guten Tag und hoffe, dass die jungen Zaunkönigskinder überleben werden.
Liebe Grüsse Mami