Vor kurzem haben wir als Familie Indien besucht - eine Reise, die unseren Kindern vor allem dazu dienen sollte, das Land, das ihre Eltern vier Jahre lang ihr Zuhause nannten, kennenzulernen. Doch wir kamen mit weit mehr als Erinnerungen an alte Zeiten zurück. Wir erlebten hautnah, was Gott Großes tun kann mit dem Wenigen, das wir ihm von uns zur Verfügung stellen.
Unmittelbar nach Abschluss unserer eigenen theologischen Ausbildung in den USA begannen wir mit der Gründung einer Tochterschule in Indien und stürzten uns mit Begeisterung und Inbrunst in dieses Pionierprojekt. Die nächsten vier Jahre waren gefüllt mit wunderbaren Begegnungen mit unserer wachsenden Studentenschaft. Wir lehrten über Gnade, und unsere indischen Studenten nahmen die Botschaft von Gottes bedingungsloser Liebe bereitwillig auf. Sie spielten mit unseren Babys, nahmen uns in ihre wunderbare Gemeinschaft auf, verziehen uns großzügig unsere Unwissenheit über ihre Kultur und die Arroganz, die sich so schnell einschleicht, wenn Menschen aus dem Westen mit Menschen aus anderen Teilen der Welt interagieren. Rundum wurden wir mit viel mehr Freundlichkeit und Respekt behandelt, als wir verdienten.
Gleichzeitig begannen sich kleine Warnzeichen in unseren Herzen zu melden, was die Lehrmeinungen anging, die von der Leitung unserer amerikanischen Schule mit großer Überzeugung und Strenge vertreten wurden. Über Lehrfragen hinaus merkten wir, dass sich unser Verständnis von Führung stark von dem der amerikanischen Schule unterschied. Wir glaubten an das Potenzial unserer indischen Studenten und wollten feiern, wie Gott jeden von ihnen mit einzigartigen Ausdrucksformen des Glaubens geschaffen hatte – ein Glauben, welcher auch von ihrem Hintergrund und ihren Träumen mitgestaltet war. Unsere indische Schule war geprägt von Authentizität, Teamarbeit und ehrlichen Gesprächen. Wir wollten Raum für Zweifel lassen und persönlichen Herausforderungen auf mitfühlende Art und Weise begegnen.
Die Leitung der amerikanischen Schule jedoch schien damals in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Hierarchische Strukturen, finanzielles Wachstum und Loyalität gegenüber strikten Lehrmeinungen schienen ihr Verständnis von Erfolg auszumachen. Die Sturmwolken in unseren Herzen verdunkelten sich. In einem Umfeld wie diesem konnte weder Verletzlichkeit noch Mitgefühl wachsen. Unsere Bemühungen, Gespräche mit der amerikanischen Schule über unsere unterschiedlichen Führungsstile zu suchen, wurden stattdessen mit weiteren – in Indien oft kulturell irrelevanten – Regeln und mangelnder persönlicher Interaktion beantwortet. Die ganze Situation gab uns das Gefühl, zugleich alleingelassen und bevormundet zu werden – ein Phänomen, das viele Menschen im Missionsdienst nur zu gut kennen.
Hoffnung schöpften wir durch unsere großartigen Studenten. Ihre Dankbarkeit, Bereitschaft zum praktischen Dienst und ihre Wissbegierde berührten uns tief. Ihre Herzen waren offen, ob wir nun einige der Botschaften der Schule lobten oder andere herausforderten. Wir genossen die Diskussionen, Gespräche, Lieder und die Gemeinschaft mit unserer indischen Familie.
Gleichzeitig lastete das Leben in Indien auf uns – besonders auf mir. Während der Balanceakt mit der amerikanischen Schule meinen Mann nachts wach hielt, belastete mich die Herausforderung, ein zweijähriges Kind großzuziehen und ihre Schwester in Chennai zur Welt zu bringen. Zu viele Dinge waren fremd – besonders, da ich damals noch keine echte Wertschätzung für die Kultur Indiens hatte. Schließlich waren wir in einem westlichen evangelikalen Umfeld geschult worden, das von seiner eigenen Überlegenheit in geistlichen Dingen überzeugt war.
Nach vier Jahren wurde eine äußerliche Veränderung unabdingbar. Im Interesse unserer Familie und unserer eigenen Gesundheit mussten wir unsere Arbeit Indien schweren Herzens verlassen. Schweren Herzens einerseits, weil nicht alles an der amerikanischen Schule problematisch war. Bis heute sind wir überzeugt, dass viele ihrer Grundlagen befreiend und lebensspendend sind – der Grund, warum wir uns der Bewegung überhaupt angeschlossen hatten. Wir wollten nicht alles hinter uns lassen und nie zurückblicken. Wir liebten Menschen in dieser Bewegung, und wir stimmten immer noch mit vielen ihrer Überzeugungen überein.
Das Schwerste war, dass wir nicht nur Studenten, sondern auch Freunde und Teammitglieder zurückließen. Die wenigen Jahre reichten nicht aus, um ein indisches Führungsteam aufzubauen, das die Schule hätte übernehmen können – zumindest nicht zur Zufriedenheit der amerikanischen Schule. Es gab noch so viel zu tun, so viele unerfüllte Träume, so viel Potenzial in unserem Team. Indien zu verlassen, schien egoistisch und lieblos – und dennoch bin ich bis heute überzeugt, dass es damals für unsere Familie die richtige Entscheidung gewesen war.
Unser Wegzug belastete natürlich auch unsere Beziehung zur amerikanischen Schule, obwohl wir auch nach Indien noch mehrere Jahre mit dieser Organisation weiter zusammenarbeiteten. Zum einen erstaunte es uns, dass von Amerika her gar nie nach den Gründen für unsere Entscheidung gefragt wurde – unser Input, unser Erleben schien nicht mal ein Telefonat wert zu sein. Andererseits wurde uns aufgrund der Regeln aus den USA am Ende sogar verboten, mit unserem Team in Indien weiter Kontakt zu haben.
So beobachteten wir im Laufe der folgenden Jahre – meist aus der Ferne, da wir nun in der Schweiz lebten – wie unsere indischen Freunde unter dem neuen amerikanischen Leiter, der an unsere Stelle gesetzt worden war und welcher „von oben herab“ mit strikt hierarchischen Strukturen leitete, litten. Es brach uns fast das Herz.
Manche Leser können sich in diesen Gefühlen wiederfinden. Wir schmieden Pläne, und stürzen uns mit Überzeugung und Leidenschaft in unsere Herzensprojekte. Doch bei vielen kommt irgendwann der Moment, wo alles um uns herum zusammenbricht – sei es schmerzhaft langsam oder an einem einzigen Tag –, und wir finden uns mit existenziellen Fragen und Desillusion wieder. Rechnet man das Schuldgefühl hinzu, das wir aufgrund unserer persönlichen Entscheidung empfanden, und man kann sich leicht vorstellen, mit welch ambivalenten Gefühlen wir Indien gegenüberstanden.
Im Verlauf der nächsten 13 Jahre verarbeiteten mein Mann und ich diese Erfahrungen auf individuelle Weise. Wir sammelten mit verschiedensten Formen christlichen Dienstes und christlicher Gemeinschaften Erfahrung, ich schrieb einen Roman, und David leitete weiterhin Teams - diesmal in einem Umfeld, wo statt Hierarchien Authentizität und Mitgefühl gefördert werden. Wir wurden uns der Fehler bewusst, die auf beiden Seiten geschehen waren in dieser Sache, und versöhnten uns in unseren Herzen mit der Schule. Und trotzdem blieb mir unsere Zeit in Indien insgesamt als „ein Beispiel dafür, wie Mission nicht funktioniert“ in Erinnerung.
Das änderte sich vor einem Monat – bei unserem ersten Wiedersehen mit unseren Studenten in Chennai. Erst später wurde mir bewusst, wie sehr ich zuvor innerlich den Atem angehalten hatte - ob wir wohl Gleichgültigkeit oder sogar Bitterkeit von den Menschen erfahren würden, die wir verlassen hatten?
Einige kamen von weit her, manche noch immer mit der Schule verbunden, andere inzwischen an anderen Lebensorten – aber sie alle kamen. Es wurde ein Abend, den ich nie vergessen werde. Die Liebe und Wertschätzung, die uns entgegengebracht wurde, war überwältigend – und gleichzeitig demütigend. Ich wurde an die Geschichte des verlorenen Sohnes erinnert, dessen Entschuldigungen, geboren aus der Erkenntnis seiner Fehler und seines Stolzes, von der Umarmung seines Vaters gestoppt werden. Gleichermaßen erlebte ich, wie meine Entschuldigungen sich in Umarmungen und Gelächter verloren. Statt Erklärungen wollten mir verheiratete Studenten, die sich an der Schule kennengelernt hatten, stolz ihre Kinder zeigen. Und Familienmitglieder von Studenten erzählten uns, wie unsere Arbeit ihr Leben für immer verändert hatte. Den ganzen Abend über teilten unsere indischen Freunde Geschichten und Erinnerungen und feierten eine Gemeinschaft, die trotz unserer Fehler und Grenzen überlebt hatte. Es war zutiefst berührend, von unseren Studenten zu hören, was sie von uns als Familie gelernt hatten, und die Freundschaft zu erleben, die unsere Studenten auch nach all den Jahren noch verbindet.
Ich brauchte eine Weile, um das Geschenk zu erkennen, das mir an diesem Abend gegeben wurde. Der Dienst, den wir in Chennai begonnen hatten, brachte für viele unserer Freunde neben Gutem auch Enttäuschung und Desillusion. Und doch entschieden sich die allermeisten dafür, sich auf die positiven Erinnerungen auszurichten. Natürlich hörten wir in den folgenden Tagen auch von den schwierigen Zeiten. Aber selbst diese Geschichten waren mit Humor und Hoffnung durchzogen.
In einer Kultur, in der so wenig kontrolliert werden kann, sehen diese Menschen das Gute mitten im Chaos des Lebens. In meiner eigenen Kultur, in der scheinbar so viel kontrollierbar ist, rege ich mich über das kleinste Detail auf, das nicht nach meinem Willen läuft. Kein Wunder, hatte ich schwierige Erinnerungen an Indien, wo sich alles so schnell und unweigerlich meiner Kontrolle entzog. Und doch schuf Gott genau aus diesem kleinen Beitrag etwas Schönes – inmitten des Chaos, das wir hinterlassen mussten. Gott gebrauchte die Umarmungen, fröhlichen Geschichten und Freundschaften von Menschen, die wir in vielerlei Hinsicht enttäuscht hatten, um uns an etwas zu erinnern: Es geht nicht darum, ob wir unsere Arbeit als Versagen oder Erfolg wahrnehmen. In Wahrheit werden unsere eigenen Bemühungen schlussendlich immer irgendwann scheitern, während seine Gnade selbst aus den unbeholfensten unserer Bemühungen etwas Schönes machen kann.
Ich kam mit tiefer Dankbarkeit nach Hause. Wie froh ich bin, dass ich zwar daran arbeiten kann, meine Fehler nicht zu wiederholen und an Weisheit zuzunehmen – aber gleichzeitig ruhe ich in Gottes Umarmung. Denn wo meine eigenen Pläne und Vorstellungen scheitern, kommen Seine Pläne zustande - und zwar jenseits allem, was ich verstehen oder mir vorstellen kann.
Felix Ruther says
Liebe Judith
gerade habe ich deinen Blog gelesen, er stimmt mich dankbar. Wie schön, wenn Versöhnung stattfindet. Danke – blib gsägnet – du und deine ganze Familie
Felix
Varun Mathew says
This is such heart moving ,Judith.In a time ,we didnt know where to go,What to start.It was the FORGOSTONS that taught me many things,Even to write a Newsletter.Now am a Pastor of a blessed congregation having both English & Malayalam Service teaching people everything I learned From you all!
Thank you,David,Judith,Russ & Laura!
Judith Forgoston says
Thank you for your kind words, Varun – it’s wonderful to hear how you and your congregation are thriving! Blessings! Judith